Call AGK Tagung 09.-10.03.2023 Flensburg

Call for Contributions

zur 14. Tagung der AG Kasuistik in der Lehrer_innenbildung an der Europa-Universität Flensburg am 9.-10. März 2023

Erziehung in und durch Schule als Fall

„Erziehung“ gilt als eher vernachlässigtes Terrain erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen (vgl. Nohl 2020a; Rademacher 2018; Gruschka 2006); und indem Lehrerbildung als Hausdisziplin statt jener die „Bildungswissenschaft“ bestimmt oder sie als diese zugeteilt erhält (vgl. bspw. Casale 2021), erscheinen Fragen der Erziehung relativ zu solchen der Bildung speziell für die Professionalisierung von Lehrpersonen an Bedeutung zu verlieren. Gegen diese Tendenzen mehren sich nicht nur Stimmen, die Erforschung von Fragen der Erziehung wiederzubeleben, sondern werden auch neue Studien zur Erziehung in familialen Kontexten (vgl. bspw. Ecarius 2002; Wolf 2020) sowie im Bereich der Schule vorgelegt (vgl. bspw. Budde/Weuster 2018; Asbrand/ Martens 2020; Budde 2020). Die Ta- gung zielt darauf, den Diskurs um Erziehung in und durch Schule kasuistisch weiter zu befördern.

Unabhängig von solchen Konjunkturen des Themas innerhalb der Erziehungswissenschaft herrscht in der Praxis der Lehrerbildung der Eindruck vor, die antizipierte Aufgabe der Erziehung bereite Lehramtsstudierenden bzw. angehenden Lehrpersonen die größte Sorge: So erscheint Erziehen im Zusammenhang mit Praktika als der Part des pädagogischen Handelns, den zu bewältigen die Studieren- den sich am unsichersten fühlen. Nicht wenige fürchten, gar nicht erst in der Rolle der Lehrperson an- erkannt zu werden und dadurch in eine Art Erziehungsnotstand zu geraten, statt Unterricht halten zu können. Die Vorstellung, die Klasse in den Griff bekommen zu müssen, wird nicht nur von Ratgeberliteratur für Novizen umfassend bewirtschaftet (bspw. mit Titeln wie „Führung im Klassenzimmer“ oder „Mit Schülern klarkommen“), sondern erscheint auch unter Lehramtsstudierenden weit verbreitet (vgl. Ohlhaver 2009). Dabei zeigt sich die studentische Sorge um das eigene Standing zugleich konfundiert mit Unsicherheiten, welchen Anteil an Erziehung Schule zu leisten hat, ja, (pädagogisch?) legitim leisten darf.

Versteht man Pädagogik als Projekt der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Blankertz 1982, S. 306), so ist Erziehung gebunden an die Idee der Mündigkeit (vgl. u.a. Casale 2022, S. 35ff.); jedes Erziehen ist dann als Hilfe in Prozess des Mündig-Werdens zu verstehen und findet durch ihn auch ihr Ende. Dieses Ziel und diese Grenze sind nach Oevermann (2000) professionalisierungstheoretisch durch die Autonomie der Lebenspraxis markiert. Kann die bürgerliche Gesellschaft es nicht dem Zufall überlassen, dass ihre Subjekte mündig werden, ist die Schule als Ort institutionalisierter Erziehung darauf zu befra- gen, welchen Beitrag sie zur Ausbildung von Mündigkeit Heranwachsender leistet (vgl. Gruschka/ Pollmanns/ Leser 2021).

Allgemein-didaktisch betrachtet ist diesbezüglich die erzieherische Dimension der Schulunter- richt kennzeichnenden Logik der Vermittlung (vgl. Gruschka 2013) von besonderem Interesse: Soll Schule zur gesellschaftlichen Ausbildung von Mündigkeit durch fachlich vermittelte „Bildung im Medium des Allgemeinen“ (Klafki 2007, S. 53) beisteuern, verdient die seit Herbart bekannte Figur des „erziehenden Unterrichts“ (vgl. Koch 2004) u.E. besonderes Interesse: Empirisch gilt es, die Prozesslogik der intergenerationellen Genese von (Un-)Mündigkeit durch schulischen Unterricht zu rekonstruieren (vgl. Pflugmacher 2007; Gruschka 2013; Pollmanns 2019).

Unterrichts- bzw. Professionsforschung, die das Verhältnis von Erziehung, Bildung und Didaktik kasuistisch erschließt, zeigt Tendenzen des Outsourcings bzw. der Delegation der Aufgabe der Erziehung an andere, bspw. Sozialpädagogen (vgl. Jornitz 2004/05; Leser 2019), gar an Hunde (vgl. Pollmanns/ Kabel i.E.) auf; damit werden Fragen aufgeworfen wie etwa diejenige, was es erzieherisch be- deutet, wenn der Lehrberuf auf die Rolle eines Coaches reduziert wird. Wird bspw. Erziehung zum Classroom Management umetikettiert und aufgewertet, entspricht dem darin zum Ausdruck kommen- den Führungsanspruch paradox, dass zugleich die Erziehungsverantwortung an die zu Erziehenden selbst zu delegieren versucht wird, etwa indem man sie entsprechende Reflexionsbögen ausfüllen lässt (vgl. Rychner 2016).

Aktuell werfen des Weiteren Formen von Erziehung in und durch Schule jenseits von Fachunterricht Fragen hinsichtlich intendiertem Zweck und objektiver Funktion auf, wenn Schule sich etwa als „gesunde“ oder „bewegte Schule“ versteht oder „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auf ihre Fahnen schreibt. Betreffen kasuistisch gewandte schulpädagogische Fragen auch solche des Verhältnisses mikrologischer und makrologischer Prozesse (vgl. Hummrich 2015; Helsper 2000; Hünig 2021), wäre ebenfalls danach zu fragen, inwiefern sich in o.g. Tendenzen gegenwärtigen Abblendens oder Outsourcens von Erziehung innerschulische Modernisierungen des pädagogischen Verhältnisses abzeichnen oder eher gesamtgesellschaftliche Verschiebungen im Intergenerationenverhältnis ausdrücken, wie sie mit dem „Ende der Erziehung“ (Giesecke 1985; vgl. Idel 2018) schon längst angekündigt wurden.

Wir stellen uns vor, dass das Thema in den Workshops anhand von Dokumenten unscheinbarer bis offensichtlicher Formen schulischen Erziehens oder der Befassung mit diesen in kasuistischer Lehrerbildung zum Gegensand der Analyse wird.

Mögliche Themen bzw. Fragen für Workshops:

Verhältnis von didaktischer Vermittlung und Erziehung:

  • Wie vollzieht sich Erziehung im Unterricht, also verwoben mit didaktischer Vermittlung? Zeigen sich hier fachliche Besonderheiten?
  • Wie zeigt sich Erziehung im Unterricht? Wann und was wird als Erziehung im Unterricht kenntlich?

Welche Formen impliziter und expliziter Thematisierung (etwa „Unterrichtsstörungen“ (vgl. Twardella 2010; Wenzl 2017) lassen sich bestimmen?

Verhältnis unterrichtliche und außerunterrichtlicher Erziehung:

  • Wie vollzieht sich Erziehung jenseits von Unterricht? Und wie steht sie mit jener dort in Beziehung?
  • Vollzieht sich Erziehung in Schule interprofessionell und was bedeutet das für Erziehung?

Methodologisch/ objekttheoretisch:

  • (Wie) Lassen sich kasuistisch Erziehung und Sozialisation unterscheiden? Erweist sich Erziehung möglicherweise als Nicht-Fall für rekonstruktive Verfahren, für die Absichten und Intentionen methodisch nicht zugänglich sind? Und wie werden praxeologisch Erziehungspraktiken als Praktiken des Erziehens ausgewiesen?
  • (Wie) Lassen sich Formen von Erziehung auch unabhängig von Interaktionsprotokollen – etwa über eine pädagogisch gestaltete Umgebung (vgl. bspw. Hackl 2009) – fassen und deuten?
  • (Wie) Lassen sich institutionelle Deutungen des öffentlichen Erziehungsauftrags der Schule relationieren zu mikrologischen Erziehungsprozessen auf der Ebene des Unterrichtens?

 

Formen des Erziehens – in Abhängigkeit zum Klientel der Edukanden:

  • Auf welche Differenzen und Gemeinsamkeiten stoßen Fallstudien zu Erziehung an Grund- und weiterführenden Schulen, an Schulen verschiedener Schulformen oder anderer differenter Rahmenbedingungen? Erscheint die Aufgabe der Erziehung ggf. hier verpönt, dort jedoch nicht bzw. wird sogar ins Zentrum gerückt?

Relation schulischer mit anderer Erziehung:

  • Wie zeigt sich familiale Erziehung in Schule und Unterricht? Welche Bedeutung gewinnt sie für jene?
  • Wie wird die von Schule und Eltern/ den primär Erziehungsberechtigen geteilte Zuständigkeit in Fragen der Erziehung gestaltet? Wie setzt sich schulische Erziehung mit derjenigen in anderen pädagogischen Einrichtungen sowie der Familie ins Verhältnis bzw. wie grenzt sie sich davon an?

Relation außerpädagogischer und pädagogischer Deutungsmuster von Erziehung:

  • Was sind relevante gesellschaftliche Deutungsmuster schulischer Erziehung? Wie kommen sie in außerpädagogischen Artefakten wie Literatur, Film, Presse, Witzen zum Ausdruck?
  • Welche Relevanz kommt außerschulischen Deutungen, die Erziehung als Begriff bewusst vermeiden, in der schulischen Praxis zu?

Vorschläge für Workshops willkommen!

Wir freuen uns über Vorschläge von Workshops, die eines der genannten Themen zum Gegenstand machen oder weitere Fragen mit Bezug zu „Erziehung in und durch Schule als Fall“. Wir laden insbesondere Kolleginnen und Kollegen aus den Fachdidaktiken zur Einreichung ein.

Für die Einreichung erbitten wir:

–    Kurzbeschreibung des Themas des Workshops (geplante Dauer: 120 min)

–    Hinweise, welches Material dort gemeinsam analysiert werden soll

Bitte senden Sie Ihren Vorschlag für einen Workshop in Form einer kurzen Skizze (max. 1.000 Zeichen)

bis zum 06.01.2023 per Mail an marion.pollmanns@uni-flensburg.de.

Wir planen, bis Ende Januar das Programm der Tagung zusammengestellt zu haben. Sobald es steht, werden wir es publik machen, zur Teilnahme an der Tagung einladen und um Anmeldung bitten.

Marion Pollmanns, Sascha Kabel, Rahel Hünig & Alexandra Kollmeier

Oktober 2022